Ratlos
Unentschlossen stand er vor dem Bücherregal. Der Geruch von Buchseiten, Holz und frisch gegossener Erde schwebte durch die Luft. Sein Blick wanderte langsam über die prall gefüllten Reihen des Regals mit ihren unzähligen Buchrücken. Nach all den Jahren hatte er in fast allen Formen und Farben gebundene Geschichten. Zudem hatte er jede davon gelesen und eine Kritik verfasst. Gelegentlich versteckte seine Frau eine neue, damit er sie zufällig entdecken konnte.
Aber sie tauschten sich nicht mehr über die Bücher aus, die sie lasen. Wobei das vorwiegend an ihm lag. Auch wenn ihm die Bücher gefielen, konnte er sich beim Lesen, sobald er Schwachstellen gefunden hatte, nur noch auf diese konzentrieren. Die Stärken verschwanden im Hintergrund, wie ein angepasstes Chamäleon. Seine harte Kritik, die primär vor den Schwächen der Geschichten warnte, wurde gedruckt. Auf sein Urteil verließen sich Woche für Woche unzählige Leser der Zeitschrift »Buchblatt«.
Seufzend blickte er in die Richtung der Küche, in die seine Frau verschwunden war. Vor einigen Minuten war sie noch vor dem Bücherregal entlanggelaufen. Hatte fröhlich singend die Pflanzen, die auf und in dem Regal standen, gegossen. Wenn sie durch ihr lichtdurchflutetes Haus wanderte und sein Lieblingslied »To build a home« sang, ertappte er sich dabei, wie er sie voller Herzschmerz beobachtete. Allerdings konnte er es nicht ausstehen, wenn sie sich zwischen ihn und das Bücherregal stellte, während er in seinem Sessel saß. Aber genau dadurch hatten sie sich überhaupt erst kennengelernt. Sie hatte sich ihm unbewusst in den Weg gestellt.
Beide hatten gleichzeitig nach einem antiquierten Buch gegriffen. Zuerst war er überrascht, dass eine so schöne Frau sich für solch schwere Lektüre interessierte. Dann fiel ihm auf, dass es das einzige Exemplar war und sie sich einig werden mussten, wer es bekam. Dadurch waren sie ins Gespräch gekommen.
Sie diskutierten so lange miteinander, dass beide durstig wurden und etwas zu trinken brauchten. Also setzten sie sich in ein Café und debattierten weiter, bis dieses schloss. Sie überließ ihm das Buch unter der Bedingung, dass sie sich am nächsten Tag wieder in dem Café treffen würden und sie es an dem Tag mitnehmen durfte. Anfangs diskutierten sie bei ihren tagtäglichen Treffen nur über das Buch. Probierten einander mit ihrem Wissen und dem Studium darüber, den anderen auszustechen und einen größeren Besitzanspruch dafür zu erlangen. Dabei offenbarten sie einander ihre Studiengänge und Liebe für Literatur.
Eines Abends, als sie beide vom pausenlosen Diskutieren heiser waren, wobei sie inzwischen über jegliche Themen diskutierten, schaute sie ihn mit schimmernden Augen an. Meinte, sie möchte nicht, dass der Abend endet. Nie wieder. Er hatte nur geantwortet, es wäre physikalisch unmöglich, den Abend in die Länge zu ziehen, da Kronos ihnen diese Macht leider verwehrte.
Kichernd schob sie ihre Brille, die über die letzten Stunden gewandert war, wieder hinauf. Nippte ein letztes Mal an ihrem Weinglas, schaute ihm dann direkt in die Augen. Strich eine blonde Strähne hinter ihr Ohr und entgegnete verschwörerisch lächelnd, dass es sehr wohl möglich wäre. Er müsste lediglich ihr Mann sein.
Genauso wie er sie seit ihrer ersten Begegnung liebte, liebte er auch seinen Beruf über alles. Dafür bezahlt zu werden, Bücher zu lesen und seine Kritik zu ihnen abgeben zu dürfen, war ein Traum, den er ohne sie nie erreicht hätte. Das fehlte ihm am meisten. Mit seiner Frau über Bücher zu reden. Ohne die stundenlangen Gespräche über die Geschichten, die sie verschlangen, hätte sich niemals ihre Beziehung ergeben. Allein bei dem Gedanken wurde sein Herz schwer und seine Augen glasig. Doch wie sollte er mit ihr darüber reden? Seufzend rieb er sich seinen Nasenrücken.
Tief durchatmend, stand er auf, wanderte, mit dem Blick über die Buchrücken schlendernd, das Regal, welches die ganze Wand einnahm, entlang. Bei allen gelesenen Titeln fielen ihm nur wieder die Schwachpunkte ein, weshalb man eher zu einem anderen Buch greifen sollte. Er empfahl den Leuten immer, sich ein eigenes Bild von den Büchern zu machen. Trotzdem war ihm bewusst, wie viel Einfluss seine harten Rezensionen hatten. Durch so manch seltenes positives Wort von ihm hatte er einigen Romanen einen Erfolg beschert, den sie ohne ihn wahrscheinlich nie gehabt hätten.
Bedauerlicherweise wurden seine Kritiken immer wieder als »Zerriss« betitelt, was gar nicht seine Absicht war. Er wollte lediglich die Leser des »Buchblatt« vor einem Leseerlebnis bewahren, von dem die Menschen möglicherweise enttäuscht waren. Die Leute sollten Freude am Lesen haben und diese mit dem nächsten Buch behalten.
Am Ende seines Regals angekommen, schüttelte er traurig den Kopf und setzte sich in seinen samtgrünen Ohrensessel. Nun hatte er es geschafft. Obwohl er Hunderte Bücher hatte, kannte er bei jedem Buch nur den Grund, warum man zu einem anderen greifen sollte.
Müde nahm er die Brille ab, rieb sich die Stirn. Die Wochen vor großen Buchpreisen und Messen waren immer am anstrengendsten. Die Verlage brachten unzählige Bücher heraus und natürlich sollte er zu möglichst vielen eine Rezension verfassen. Dafür bekam er die Wochen danach immer frei. Aber dieses Jahr waren es mit über zwanzig Büchern, zu denen er einen Text verfasst hatte, mehr als jemals zuvor.
Erschöpft öffnete er die Augen und setzte sich seine Brille wieder auf. Da fiel ihm ein beiger, sehr schmaler Buchrücken ins Auge. Hatte er den zuvor überhaupt gesehen?
Zögerlich ging er auf ihn zu, behielt jedoch ein wenig Abstand. Wie ein Löwe, der eine Antilope jagte. Die ganze Zeit darauf bedacht, seine Beute nicht zu verjagen. Dann ergriff er das Buch fest entschlossen und betrachtete das Cover. Neugierig schaute die illustrierte Motte zurück. »Die kleinen Freunde«. Ein Buch von Melody Spring.
Stimmt, er besaß nur dieses eine Kinderbuch. Damit hatte seine Karriere als knallharter Kritiker begonnen. Die Presse war von seinem Urteil hellauf begeistert. Aber war sein Urteil damals richtig gewesen? Er war damals noch grün hinter den Ohren, sich der Tragweite seiner Worte in keiner Weise bewusst. Dennoch hatten alle sein Urteil als perfekt zutreffend bewertet. Mit einem mulmigen Gefühl und dem Buch in der Hand verließ er ihre Bibliothek, wanderte unsicher in die Küche.
»Was hast du da?«, wollte seine Frau neugierig wissen, die wild herumwuselte. Wenn man sie so sah, war es kaum vorstellbar, dass man sie von einem Buch gelegentlich losreißen musste, da sie es ansonsten beinahe reglos innerhalb von einem Tag verschlang.
»Das Kinderbuch.«, entgegnete er hohl.
»Oh, das ist wunderschön. Eine bezaubernde Geschichte. Mit einer so tollen Botschaft zu Freundschaft. Ich weiß gar nicht, wie oft ich das gelesen habe.«, kommentierte sie fröhlich, während sie das kochende Wasser in ihre Kanne goss. Der Jasmintee verstörmte sein Aroma nahezu umgehend.
»Wie schaffst du es, so begeistert von Büchern zu sein, obwohl du meine ganzen Kritiken liest? Du liest Bücher, die ich in der Luft zerrissen habe und kannst das Buch mit einem Lächeln schließen. Wie schaffst du das?«
Seine Frau schmunzelte. Verstaute die Teepackung im Apothekerschrank, holte ihre Lieblingstasse, die er ihr vor Jahren geschenkt hatte, aus dem Schrank. Sie nutzte die Tasse so viel, dass von dem Keramikdruck, nur noch schwache Silhouetten übrig waren. Gelassen nahm sie das Sieb aus der Kanne, füllte ihre Tasse und trank genussvoll einen Schluck Tee. Dann lächelte sie ihn verschwörerisch an, als ob sie ihm wieder einmal ein Geheimnis verraten würde:
»Ich lese, um mich in Welten entführen zu lassen. Verfolge den Protagonisten auf seiner schwierigen Heldenreise. Begleite ihn bei all seinen Aufs und Abs. Fiebere mit ihm, ob er sein Ziel am Ende wirklich erreichen wird. Ein jeder, der sich dabei nur auf Form, Schrift und Fehler konzentriert, wird die Geschichte niemals mit all ihren farbenfrohen Facetten wahrnehmen können und das Buch nicht mit einem Lächeln schließen.« Für einige Sekunden herrschte Stille in der Küche. Lediglich die Wanduhr tickte.
»Willst du mir sagen, dass ich falsch lese?« Er fuhr sie mehr an, als er wollte. Mit der Aussage hatte sie einen Nerv getroffen. Etwas, das er bisher selbst nicht in Worte fassen konnte, an ihm bereits seit Monaten, vielleicht sogar Jahren nagte.
»Nicht falsch. Schlichtweg verlernt dich mehr auf die Geschichte als die Form zu konzentrieren. Ich wette, wenn ich dir das Buch vorlese, wirst du dazu eine Rezension schreiben, die sich zu der ursprünglichen deutlich unterscheiden wird.« Für einen Moment schauten sie einander einfach in die Augen. Was sah sie wohl in seinen? Den knallharten Kritiker, der selbst beim perfekten Buch einen Makel fand?
Sie strich ihm einmal liebevoll über die Hand, griff sich dann ihre Tasse und Kanne und wollte die Küche schon verlassen, als er endlich seinen Schatten übersprang.
»Warte.«, brachte er kraftlos hervor. Überrascht schaute sie ihn an, trat einen Schritt zurück. Fieberhaft versuchte er, die richtigen Worte zu finden. Schluckte schwer. »Bitte, lass es uns probieren.« Ihre Augenbrauen kletterten erstaunt ihre Stirn hinauf. Hätte er es sich verkneifen sollen? Würde sie ihm Kontra bieten? Wie in ihrer Studienzeit? Unruhig bereitete er sich darauf vor, ihrer Reaktion standzuhalten. Aber sie wurde nicht laut. Kam ihm noch einen Schritt näher. Die Spitzen ihrer Hausschuhe berührten sich. Ihr Blick wurde weich und ihr Lächeln so sanft, wie er es zuletzt vor Jahren gesehen hatte. »Na gut. Dann komm.«
Der Moment erinnerte ihn an damals, als sie zugestimmt hatte, mit ihm in sein Lieblingscafé zu gehen und an den, als sie ihn indirekt gefragt hatte, ihr Mann zu sein. Gemeinsam setzten sie sich in ihre Bibliothek. Er in seinen geliebten Ohrensessel mit Fußhocker, während sie ihren dunkelbraunen Rückzugssessel direkt daneben schob. Dann verknotete sie sich darin, trank einen weiteren Schluck Tee und räusperte sich kurz, bevor sie zu lesen begann. Vom ersten Wort an hing er an ihren Lippen. Es war, als würde sie für ihn allein das Buch zum Leben erwecken. Jeder Charakter hatte eine eigene Stimme, die genau zu seiner Persönlichkeit passte. Ihr Lesetempo stimmte perfekt mit dem Rhythmus der Geschichte überein. Keine Sekunde konnte er sich von ihr abwenden. Mit jeder neuen Seite fühlte er sich mehr in seine Kindheit zurückversetzt, als seine Mutter ihm heroische Abenteuer erzählte, weil sie sich die Bücher damals nicht leisten konnten.
Nach Stunden, inzwischen hatte sie ihre Teekanne geleert, klappte sie das Buch nach den letzten Worten zu. Gespannt blickte sie auf. Ihr ordentlicher Mann saß mit angewinkelten Beinen auf dem Sessel und hielt sein zerknittertes, feuchtes Stofftaschentuch in den Händen.
Ab diesem Tag sprachen sie wieder über Bücher. Täglich. Er schrieb zu jedem von ihm jemals rezensierten Buch eine neue Kritik. Zu jedem neuen Buch schrieb er zwei: eine als Kritiker und die zweite als Geschichtenliebhaber.