Eine weitere Nacht
Genervt warf er den Rucksack auf die Bank der Garderobe, schlüpfte aus den Schuhen, indem er auf die Hacken trat. Ließ das Skateboard einfach quer im Flur stehen. Der Tag war vollgestopft mit langweiligen bürokratischen Terminen, die ihm jegliche Motivation geraubt hatten.
Endlos scheinende Gespräche über Belanglosigkeiten, nur weil er die Steuern ein paar Minuten zu spät eingereicht hatte. Vielleicht auch Tage. Oder eine Woche. Maximal eine Woche. Dass das Finanzamt deswegen gleich so ein Fass aufmachen würde, konnte ja keiner Ahnen. Wahrscheinlich sollte er im nächsten Jahr ein wenig früher anfangen als einen Tag vor der letzten Abgabefrist.
Zudem das viel zu lange Gespräch mit dem Vermieter des Raums, in dem er gerne die nächste Ausstellung veranstalten wollte. Allerdings war dieser nicht wirklich kunstinteressiert. Er wollte vor allem jemand Seriöses für seine Räumlichkeiten, wovon er natürlich versuchte, ihn höflichster Manier zu überzeugen. Bis zu dem Spruch:
„Ach für Leute wie Sie müssen wir also unsere ganzen Sozialabgaben zahlen. Anders können Sie bedauernswerterweise nicht über die Runden kommen. Sobald sie Umsatz erzielen, zahlen Sie aber doch ein?“
Am liebsten hätte er das Gespräch beendet. Doch die Räumlichkeiten waren zu gut, der Preis spotthaft billig. Daher ließ er das Gesagte einfach an sich vorbeiziehen. Es hatte ihn dennoch getroffen.
Ohne darauf zu achten, was nun wirklich in der Flimmerkiste lief, schaltete er diese an und fiel alle viere von sich streckend auf das Sofa. Schloss seine Augen.
„Es gibt so einiges sehenswertes in den schottischen Hochebenen. Aber dieses ungleiche Paar erregt teilweise mehr Aufmerksamkeit als die englische Königsfamilie. Eine ungewöhnliche und dennoch verzaubernde Freundschaft.
Hamish, ein schottisches Hochlandrind, freundete sich mit der Gans Gisbrone an.“, tönte der Fernseher blechern. Verwundert hob er den Kopf. Hochlandrind? Hatte er noch nie gehört. Doch beim ersten Blick auf den Fernseher faszinierte ihn das Tier.
Das zottelige Fell, diese großen Hörner und der herzerweichende, sanftmütige Blick. Ohne zu überlegen klappte er den Mac auf und innerhalb weniger Klicks fand er eine perfekte Vorlage. Die Leinwand mit einem nicht abgeschlossenen Bild, die gerade auf der Staffelei stand, stellte er zur Seite. Nahm die Leinwandrolle und den zuletzt zusammengesteckten Keilrahmen, spannte innerhalb weniger Minuten eine neue.
Für die Grundierung ließ er sie auf dem Boden liegen. Schnappte sich den nächstbesten Pappteller, auf denen er meist die Farbe mischte und mixte aus einer Kombination aus weiß und gelb eine Pastelleierschalenfarbe. Mit großen, groben geschwungenen Zügen verteilte er diese auf der gesamten Leinwand.
Das Weiß verschwand vollkommen. Allerdings nicht gleichmäßig glatt in allen Ecken. Er ließ sie an einigen Stellen aufstauen, wodurch die Bewegungen des Spachtels an mehreren Orten eindeutig erkennbar war. Der Hintergrund erinnerte ein wenig an eine Raufasertapete.
Aus der Ecke nahm er den Heizlüfter und stellte diesen an die Leinwand. Normalerweise müsste er einige Stunden warten, bis die Farbe ausreichend getrocknet war, um weiter zu malen. Doch die Muse hatte ihn erwischt. Er war geladen, voller Energie und wollte dieses Bild in einem Rutsch kreieren. Während die Hintergrundfarbe trocknete, ging er zu seinem Fenster, öffnete es, nahm seine letzte gedrehte Zigarette. Steckte sie sich an. Blickte dabei in die dunkle Ferne.
Wie spät es wohl war? Er hatte in diesem Moment das Gefühl für Zeit wieder verloren. Das passierte immer, wenn er vollständig im Malen versank. Ob es wohl schon so spät war, dass die meisten Leute schon schliefen? Welcher Wochentag war eigentlich? Als er noch in einem normalen Beruf gearbeitet hatte, wurde er Montag bis Freitag von den Arbeitszeiten durch den Alltag gejagt. Das Wochenende war stets das Größte. Achtundvierzig Stunden, die man nach Lust und Laune gestalten konnte.
Doch seitdem er seine ganze Zeit dem Malen widmen durfte, war es egal, ob es Mittwoch oder Sonntag, normaler Arbeitstag oder Feiertag, Sommer oder Winter war. Er malte, Tag ein, Tag aus. Außer er hatte Termine oder veranstaltete eine Ausstellung. Natürlich nahm er sich ab zu auch einen Tag für sich. An den meisten Tagen hatte er aber sowieso Lust zu malen. Deshalb war es nie eine echte Frage, was er mit dem Tag anstellte. Mit einem letzten tiefen Zug rauchte er das letzte Stück seiner Zigarette auf, drückte diese in den überlaufenden Aschenbecher und wanderte zurück.
Inzwischen war die Farbe trocken genug, damit er die Leinwand auf die Staffelei stellen konnte. Er nahm einen der herumfliegenden Bleistifte, spitze diesen, während er die Vorlage inspizierte. Dabei visualisierte er vor seinem inneren Auge, wie das Tier auf der Leinwand aussehen sollte.
Mit dem spitzen Bleistift zog er die groben Konturen. Wanderte dabei in seinem üblichen Trott von der Leinwand weg, betrachtete das Gesamtbild. Zurück zentimeterdicht vor die Leinwand, um die Linien mit der erforderlichen Genauigkeit zu ziehen. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, nachdem die groben Konturen skizziert waren, nahm er sich die rosa Farbe. Mischte diese passend auf einem anderen, fast schon eigenständig Kunstwerkartigen Pappteller, an.
Mit langen, langsam anfangenden und mit der Länge des Strichs schneller werdenden Bewegungen zog er eine Linie nach der anderen. Setze die Grundfarbe des Tiers, malte selbst die Hörner für den Beginn in dem Farbton. Mit kleinen Schritten entfernte er sich immer weiter von der Leinwand. Stand schlussendlich am Fenster und wäre am liebsten noch weiter zurückgegangen. Das Rosa war viel zu blass, die bisherige Arbeit gefühlt nicht die Zeit Wert, die er hineingesteckt hatte.
Am liebsten hätte er den Bleistift genommen, voller Wucht durch die Leinwand gestoßen. Das Bild zerrissen. Was sollte daraus noch werden? Besaß er denn überhaupt Talent? Frustriert drehte er sich eine frische Zigarette. Entzündete sie und sog voller Inbrunst daran. Die Glut kletterte ein Viertel der Zigarette empor. Er genoss das warme Gefühl, dass sich in ihm ausbreite. Dann atmete er aus, blickte auf seine Vorlage, wanderte wieder zu dem Gemälde.
Anfang schoss es ihm durch den Kopf. Alles, was er bisher auf die Leinwand gebracht hatte, war nur der Anfang. Es war nicht die Zeit für ein finales Urteil. Jetzt zählte nicht, welchen Strich er zuletzt gezogen hatte. Ob eine Ecke vielleicht nicht perfekt war. Das Einzige, das zählte, war der nächste Strich!
Mit neuer Motivation legte er nach einem halbherzigen Zug die bisher nicht einmal halb aufgerauchte Zigarette auf die Halterung des Aschenbechers, verteilte dunkelblaue und weiße Farbe auf seinem Teller. Erweiterte das Bild mit einer Linie nach anderen. Dunkelblau allein reichte nicht. Zudem würde die Farbe, wenn er sie auf einer zu großen Fläche nutze, einen dunklen Akzent setzten, der die Farbfroheit rauben würde.
Ihm fehlte jedoch die Geduld, jetzt noch mehr Farbe auf dem Teller anzurichten. Vor allem hatte er dort auch keinen Platz mehr. Also nahm er sich einen frischen Pinsel und die Flasche mit der türkisenen Farbe. Schraubte sie auf, legte den Deckel zur Seite und nahm die Farbe direkt aus der Flasche. Linie für Linie kam eine Kontur nach der anderen dazu. Wie im Rausch wanderte sein Blick immer wieder sprunghaft von der Leinwand zur Vorlage und zurück. Um das Zottelkleid des Rinds in passender Form darzustellen, stellte er die Flasche weg. Nutzte wieder die vorherigen Farben.
Um die Details des Motivs besonders hervorzuheben, öffnete er den schwarzen Farbeimer. Schüttete ein wenig davon auf einen neuen Teller. Malte mit der Farbe die Nase, die Augen, die Ohren, den Schatten der Hörner. Verschwitzt von den ganzen konzentrierten Linien und der pausenlosen Konzentration stolperte er erschöpft ein wenig von der Leinwand zurück. Die Farbkombination war absolut knallig, ließen dieses so freundliche und ruhige Wesen deutlich punkiger wirken, als es war.
Zufrieden nickend nahm er sich die halbe Zigarette aus der Halterung, zündete sie an. Zog einmal daran und legte sie direkt wieder weg.
Ein Geistesblitz.
Voller Freude und Zuversicht nahm er sich erneut den türkisenen Pinsel und ergänzte den bisher noch viel zu freien Hintergrund mit Farbpunkten. Diese ergänzte er dann noch mit einigen kleineren rosafarbenen Punkten. Spritzte mit dem dunkelblau eine Punktlinie in eine Ecke. Zog mit Rosa nochmals das linke Horn nach, mit noch mehr Flüssigkeit. Ein paar Farbnasen flossen herunter. Ergänzten dadurch den Hintergrund um ein weiteres Element.
Nachdenklich erschöpft legte er die Pinsel zur Seite. Schloss die Farbflaschen, ging an sein Fenster. Sog dort begierig die frische Nachtluft ein. Öffnete seine Wasserflasche und trank zufrieden einen kleinen Schluck. Mit zittrigen Fingern nahm er sich einen dünnen Pinsel, tunkte diesen ein letztes Mal in schwarze Farbe. Ergänzte seine Signatur unten rechts in der Ecke. Jetzt war das Bild wirklich vollendet.