Prozess
Mit absolut präziser Konzentration war sein Blick auf die strahlend weiße Leinwand gerichtet. Vor seinem inneren Auge hatte er schon alle Linien gezogen. Gedankenverloren griff er sich seinen Pinsel, nahm die schwarze Farbe auf und zog ihn mit Elan über die Leinwand. Als ob er einen Schwertstreich vollführte. Es folgte ein zweiter, ein dritter.
Den Pinsel vor sich haltend, um ihn als Maßstab für die Proportionen zu nutzen, ging er blindlings einige Schritte zurück, betrachtete das begonnene Gemälde im Gesamten. Die drei Striche ergaben bloß eine Kombination aus einer Raute und einer Ellipse. Die Linien hörten nicht exakt an den anderen auf, sondern gingen durch sie hindurch, endeten im Nichts. Seine Knöchel wurden weiß, drückten voller Kraft auf den Pinsel, der verzweifelt leise knackte, jedoch nicht zerbrach. Der erste Strich war nicht kräftig genug, der zweite hatte einen zitternden Schlenker, lediglich die dritte Linie war perfekt. Exakt wie vor seinem inneren Auge.
Hochkonzentriert ging er zurück an die Leinwand, zog einen Strich nach dem anderen. Mit jedem kam er dem Gesamtkonstrukt näher. Zeitgleich entstanden an etlichen Stellen neue Probleme. Ohne über die Kleinigkeiten nachzudenken gab er sich dem Vorgang vollends hin und schob die bohrenden Zweifel beiseite.
Die Musik, die ihn lautstark beschallte, nahm er überhaupt nicht wahr. Sie diente nur dazu, ihn von der Außenwelt abzuschirmen. Den Blick nicht von der Leinwand abwendend drehte er sich eine Zigarette, zündete sie an und schlenderte rückwärts bis zum Fenster. Öffnete es mit einer gekonnten Bewegung und atmete den ersten Zug in die frische Sommerluft aus. Das Vertrauen schien sich gelohnt zu haben. Im selben Moment kletterte die Sonne über den ersten Wipfel der Berge und schien gleißend auf den mächtigen Hirsch, der ihm stolz entgegenblickte. Er legte den Kopf schräg, betrachtete die Leinwand noch einmal aus einem anderen Winkel.
Mit jedem weiteren Zug an der Zigarette beschien der neue Tag das frische Werk immer deutlicher. Eine weitere Nacht, die er im Atelier verbracht hatte. Ein weiteres Gemälde war entstanden. Ein Hirsch mit einem mächtigen Geweih, das den kompletten Kopfraum des Bildes einnahm. Er hatte ihn nicht im Gesamten gemalt, nur die Stellen, die im Schatten lagen. Es entstand ein verzaubernder Mix aus exakter Silhouette und freien Stellen, die die Kreativität des Betrachters anregte.
Nach dem letzten Zug an der Zigarette drückte er sie in den überlaufenden Aschenbecher. Dann sah er es. Das letzte Element, das fehlte. Mit schnellen Schritten ging er zurück. Nahm im Laufen eine Spraydose und zog einen pinken Strich über seine Augen. Langsam rannen einige Tropfen herunter. Verharrten durch die Raumwärme sehr kurz unter dem Strich. Setzten sich dort fest.
Hätte er sich nur auf die Probleme anstatt den Prozess konzentriert wäre er nicht fertig geworden. Erst durch Fehler kann Kunst entstehen. Diese Erkenntnis hatte er sich über unzählige Bilder erarbeiten müssen. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete er das Bild noch einmal mit ein wenig Abstand, trank verträumt das Kunstwerk betrachtend einen Schluck Wasser aus seiner bis dahin ungeöffneten Wasserflasche.