Albtraum
»Hey, wann gehen wir wieder pumpen? Ich brauch’ was zum Konzentrieren, sonst beiß’ ich hier gleich ein paar Köpfe ab!«
»Bleib ruhig. Du darfst niemandem den Kopf abbeißen, sonst töten sie dich!«
»Aber Köpfe schmecken so gut. Was wollen sie machen? Mich häuten? Mir Nahrung verweigern?« Er schaute sie schräg an, sprang von einem Bein auf das andere und wedelte mit den Armen. »Hallo, ich bestehe nur aus Knochen!« Hatten sie dieses Gespräch nicht schon gehabt? Es kam ihr so vertraut vor. Oder hatte sie eine Vision gesehen, in der er sich so verhalten hatte?
»Dennoch magst du Köpfe am liebsten …«
»Und ich genieße es zu hören, wie die Knochen knirschen, knacken, krachend brechen.« Breit grinsend offenbarte Rex ihr all seine messerscharfen Knochen mahlenden Reißzähne, schnappte einmal spielerisch nach ihr. »Sag, wann gibt es wieder etwas zu fressen?« Wieso war er so aggressiv? Wo war sein Schneid, sein Witz?
»Wenn du dich weiter so verhältst, gibt es nur ein halbes Brathähnchen für dich.«
»Ich rede nicht von Brathähnchen, meine Liebe.« Sie spürte seine Mordlust.
»Scheiße, was soll das werden, Rex? Wir sind hier,
um Geld für deinen Unterhalt zu verdienen!«, fuhr sie ihn an. Er legte ihr eine Klauenhand auf die Augen.
»Hokuspokus und Tada!« Er nahm seine Hand von ihren Augen und die Hälfte seines Kopfes war wieder mit einer Hautschicht mitsamt Schuppen überzogen. »Dank dir fließt Magie durch meine Knochen. In Kombination mit meiner Mutation sorgt das für wahre Wunder. Aber damit diese passieren können, brauche ich Nahrung. Richtige Nahrung, keine armseligen Hähnchen.« Sie schluckte schwer. Was hatte sie getan? Von der charmanten Art war nichts mehr vorhanden. »Eigentlich bist du mir zu alt, aber du bist gut gepflegt, siehst auch jung aus. Also will ich eine Ausnahme machen.«, meinte er, während das animalische Knurren aus seinem Inneren immer lauter wurde. Augenblicklich drückte sie die Rune, die auf das große Vieleckbein ihres linken Handgelenks tätowiert war, wodurch sich die magischen Ketten wieder rasselnd um ihn schnürten, ihn wie einen Tannenbaum aufs Engste komprimierten.
»Ach Naima, das hatten wir doch schon.« Sie erlebte die Situation also wirklich nicht zum ersten Mal. Er hob seine Arme und die Kettenglieder zogen sich in die Länge, bevor sie zerbarsten und wie Kugeln durch den Raum schossen. Naima versuchte auszuweichen, gleichzeitig ihren nächsten Zauber vorzubereiten, doch Rex war mit zwei Sätzen bei ihr und packte sie. Einige Kettenglieder donnerten geschossartig gegen Rex, doch er schien es nicht einmal zu bemerken. Aber Naima schrie auf, als eins sie traf und sich tief in ihre Wade bohrte. Weglaufen war spätestens jetzt zum Scheitern verurteilt. Wie hatte sie die Situation beim letzten Mal gelöst? Wie hatte sie ihn aufgehalten?
»Dein Duft hat mich seit unserem ersten Aufeinandertreffen betört.«, meinte er, kam ihr dabei mit seinen bedrohlich knirschenden Zähnen immer näher. Kurzentschlossen holte sie aus und donnerte ihm eine Kopfnuss direkt auf die Nase. Schmerzerfüllt schrie er auf und ließ sie für eine Sekunde los. Ihr Kopf dröhnte genauso laut, wie er schrie. Ihr blieb keine Zeit, ihre Schmerzen wahrzunehmen. Wie könnte sie handeln? Irgendwie musste sie die kurze Freiheit nutzen. Sie könnte mit der Hand … Nein, daran fühlte sich etwas falsch an. Als ob sie das schon unzählige Male probiert hatte. Dann eben mit dem Ellenbogen. Augenblicklich versuchte sie ihren Ellenbogen gegen seine Kehle zu rammen, doch der Schlag ging ins Leere. Das dachte sie zunächst. Bis sie merkte, dass etwas Warmes an ihrem Arm herunterlief. Der Schlag war nicht ins Leere gegangen. Er hatte lediglich sein Maul geöffnet, wodurch sie ihren Ellenbogen dort ins Nichts gerammt hatte. Und er hatte dann einfach zugebissen.
»Kein leckerer Kopf!«, meinte er, immer noch auf ihrem Ober- und Unterarm zubeißend. Sie schrie vor Schmerz, ließ all ihre Magie in ihre Faust fließen, um mit letzter Kraft verzweifelt gegen seine Kehle zu schlagen. Rex erstarrte. An seinem Hals leuchtete eine Rune auf. Die Notfallrune, die sie dort eingraviert hatte. Sie musste nur darauf schlagen und sofort wurde ihm jegliche magische Energie entzogen. Warum leuchtete die Rune lila und nicht blau? Lila stand doch für Illusionen. Wieso hatte er eine Illusionsrune am Hals? Hatte sie einen Fehler begangen?
»Du mieses Miststück! Wer geht bei einem solchen Biest freiwillig an die Kehle?«, beschwerte er sich. Aber das war nicht Rex. Seine Stimme war deutlich tiefer, zudem verschluckte er gern einige Buchstaben. Doch er hatte sich jetzt so klar ausgedrückt wie ein Nachrichtensprecher. Wabernd sank die Umgebung in sich zusammen, sammelten sich wie ein Nebelschleier, der langsam zu ihm wanderte. Auch seine Gestalt schien in sich zusammenzusacken, darunter kam ein einfacher Mann zum Vorschein. Schütteres Haar, keine besonderen Merkmale, ein klein wenig zu viel auf den Rippen. Wer war er? Und vor allem, wo war sie? Wieso war sie in einem ihr unbekannten Keller mit einem wildfremden Mann? Und warum waren sie nackt?
»Wieso hast du, miese Magierin, keine guten Träume? Ich habe deinen ganzen Kopf danach durchsucht. Nur dieser eine, der dich immer wieder verfolgt. Also habe ich ihn zu einem noch böseren Albtraum modifiziert und du befreist dich? Dann muss ich dir wohl im wachen Zustand deine Magie rauben. Bis zum letzten Tropfen.« Er bleckte seine Reißzähne. Da verstand sie. Deswegen sah er zum Vergessen gewöhnlich aus, weil er zu diesen mutierten Vampiren gehörte. Waren das überhaupt noch Vampire? Für solche Fragen hatte sie keine Zeit. Was könnte sie unternehmen? Na ja, er war ein Mann. Also ging sie einen Schritt auf ihn zu, holte dabei aus, hielt seine Arme fest und rammte ihr Knie so stark sie konnte zwischen die Beine. Ächzend ging er zu Boden.
»Such dir jemand anderen, du Blutsauger!« Motiviert wollte Naima ihr anderes Knie in sein Gesicht rammen, doch er packte ihr Bein und jagte seine Krallen in ihr Fleisch. Der Nebel zu den Füßen des Mannes lüftete sich weiter, wobei sich sein Aussehen noch mehr veränderte. Genauso die Umgebung, der Keller verschwand. Nun waren es Holzwände und vor ihr stand ein animalisches Etwas, das sie eher als weiblich als männlich beschrieben hätte.
»Ich bin kein Blutsauger!«, zischte sie mit einer gespaltenen Zunge. Ihr Kopf glich dem einer Medusa. Schlangenhaar, ein dermaßen bezauberndes Gesicht, dass man von der Schönheit gefesselt, reglos wie in Stein verwandelt, innehielt. Der Körper war mit einem Federkleid bedeckt, an ihrem Rücken prangten mächtige Schwingen. Ihr Unterleib glich dem einer Löwin, mit riesigen Tatzen und mächtigen Oberschenkeln, deren Muskelkontraktion man bei jedem Schritt beobachten konnte. Gebannt blickte Naima ihr ins Gesicht, zu jeglicher Regung unfähig. »Jetzt musste ich dir unwürdigem Wesen sogar mein wahres Gesicht zeigen. Dafür werde ich mir mit dir besonders viel Zeit lassen. Oh, das wird ein Festmahl.«, zischte sie boshaft. Das war es wohl. Sie hatte ihr Leben verwirkt. Warum hatte sie immer mit solch mächtigen Wesen zu schaffen? Ursprünglich hatte sie doch nur Magie gelernt, weil sie sich die Arztkosten für ihre Katze nicht mehr leisten konnte und die Alte von gegenüber meinte, sie hätte eine Lösung. Dafür brauchte sie nur ein Haar, zwei Tropfen Blut und ein Stück Fingernagel. Zurückblickend war ihr klar, dass das besorgniserregend klang. Aber als Kind glaubt man ja an Dinge wie den Weihnachtsmann und den Osterhasen. Warum sollte es keine Magie geben? Tja, hier war sie nun. Wohl am Ende ihres Weges. Am liebsten würde sie die Augen schließen, doch ihre Lieder gehorchten ihr nicht. Die Schönheit hatte sie voll im Bann. Sie konnte ihr nur zusehen, wie sie näher und näher kam.
»Oh, das wird herrlich.«, murmelte sie oder es zu sich selbst. Dann wurde es vor Naimas Augen weiß. Und rot. Grausam krachend, knackend, knirschend brachen Knochen. Das Geräusch kannte sie zu gut. Doch ihr schmerzte nichts.
»Entschuldige, dass es so lange gedauert hat, du hast nicht geblutet. Ich konnte dich nicht riechen, hatte nur eine grobe Richtung.«, meinte Rex genüsslich kauend, pulte dabei Schlangenhaut zwischen seinen Zähnen hervor. »Sobald du geblutet hast, war es leicht. Hier, ich habe was zum Anziehen für dich dabei.« Er öffnete die umgehängte Sporttasche, zeigte mit einer Klaue auf den Inhalt und hielt sich mit der anderen die Augen zu. »Schaffst du es allein, dich anzuziehen?«
»Du hast ihr den Kopf abgebissen.«, kommentierte sie schockiert.
»Ach, ich bitte dich. Du weißt, Köpfe schmecken am besten. Wobei sie ein bisschen schuppig schmeckt. Und sie ist kein Kind! Also gilt bei ihr das Verbot nicht. Und Köpfe beenden den Kampf am schnellsten! Nicht böse sein.« Naima musste lachen. Das war ihr Rex. Ihr brutales, grausames Monster, das sich bei ihr wie ein ertappter Teenager bei seiner Mutter entschuldigte. Wobei er mehr Charme hatte. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine waren zu schwach.
»Gib mir meinen Mantel.«
»Den ziehst du normalerweise zum Schluss an.«, kommentierte Rex verwirrt.
»Bitte, gib ihn mir einfach.« Er holte ihn aus der Tasche und reichte ihn. Zitternd schlüpfte Naima hinein, zog Rex dann an sich. »Bring uns nach Hause.« Sanft nahm er sie hoch. Sie spürte seine scharfen Klauen durch den Mantel. Er legte sie allerdings so, dass sie weder schnitten noch kratzen. Vielmehr hielten diese sie zärtlich beschützend.
»Gern Naima.« Dann lief er los. Der Wind pfiff ihr um die Ohren, während er sanft ein Lied brummte und sie ungewollt in den Schlaf trug.